Biographie Adolphe Arnold – Kapitel 6 (1942-1944): Ein Lila Winkel in Dachau

An einem eisigen Wintertag verließ ein Güterwagen Schirmeck in Richtung Konzentrationslager Dachau. Unter den fünf Zeugen Jehovas waren Adolphe und der schon betagte Versammlungsdiener der Gemeinde Mülhausen mit Namen Huber. Ein SS Wachmann starrte den weißhaarigen Mann an, deutete auf einen Schornstein und höhnte: „Durch den kommst du raus!“ Huber, der über 60 Jahre alt war, erwiderte seelenruhig: „Da geht es wirklich raus!“ 

Die Nazis boten den Zeugen Jehovas auch einen anderen Ausweg an: Sie hätten ein Schriftstück unterschreiben können, in dem sie ihrem Glauben abschworen und dem nationalsozialistischen Staat die Treue gelobten. Als Belohnung gab man ihnen ihre Freiheit wieder. Aber sie wurden dann auch dazu verpflichtet, der Gestapo die Namen anderer Zeugen preiszugeben, was unweigerlich zu deren Verhaftung und Gefangennahme geführt hätte. Den Nazis gelang es nur selten selbst unter Folter, solche Unterschriften zu ergattern.

Das Konzentrationslager Dachau (Foto: US Holocaust Memorial Museum)
Das Konzentrationslager Dachau (Foto: US Holocaust Memorial Museum)

Wie alle Gefangenen musste Adolphe seine Identität gegen eine Nummer eintauschen – 28818 – und der friedliebende Künstler mit den sanften Händen wurde umgehend zu harter Arbeit in einem Strafbataillon  abkommandiert. Auf seiner Gefängnisuniform trug er das Zeichen der Bibelforscher, den Lila Winkel. Die Nazis hatten die Absicht, die Gefangenen mit diesem Symbol zu stigmatisieren, aber die Zeugen unter den Häftlingen waren dadurch in der Lage, Glaubensbrüder zu erkennen und sich gegenseitig zu unterstützen. In den ersten drei Monaten hörte Adolphe nichts von zu Hause. Nachts quälten ihn Fragen: Wie ging es seiner Frau? Seiner Tochter? Nur sonntags erlangte er etwas Erleichterung, wenn er mit anderen Zeugen geistigen Austausch pflegen konnte, wie zum Beispiel mit Floryn aus Belgien. Endlich wurde es ihm gestattet, ein paar Zeilen zu schreiben und von Emma eine kurze Notiz zu bekommen.
Im Lager grassierte eine Typhusepidemie und Adolphe bekam hohes Fieber. Ein SS Arzt befahl ihm, selbst das Blutdruckmessgerät aufzupumpen, doch er hatte keine Kraft dazu. Daraufhin schlug ihm der Arzt so heftig auf den Mund, dass beide Frontzähne ausbrachen. Adolphe fiel in ein tiefes Koma. Als er wieder aufwachte, waren statt seiner alten Mithäftlinge lauter neue  Insassen in seiner Baracke. Er hatte 14 Tage lang ohnmächtig gelegen.

Genau zu diesem Zeitpunkt gab es für die Häftlinge Erleichterung, als der Lagerführer es den Angehörigen gestattete, Nahrungsmittel von zu Hause zu schicken. Das erste Päckchen von Emma enthielt Fischöl und etwas Heilerde. Die SS Männer machten sich lustig und meinten: „Deine Frau schickt dir schon Erde, bevor du beerdigt wirst!“ Doch Adolphe kannte die hervorragende Wirkung der Heilerde und nahm täglich etwas davon ein. Er erholte sich vollständig.

Die Pakete enthielten jedoch noch weit stärkere Medizin. Emma fand Wege, Papierzettel mit Auszügen aus der verbotenen Zeitschrift Der Wachtturm zu verstecken. Mit kleinster Schrift schrieb sie von den Zeitschriften ab, die sie dann eng zusammengerollt mit Honig zwischen zwei Kekse klebte. Ein Kapo reichte Adolphe das erste Päckchen – es war fast leer. Adolphe aß den einzigen übrig gebliebenen Keks, fand darin den Zettel und verstand sofort, warum der Mann ihn davor gewarnt hatte, versteckte Botschaften zugesandt zu bekommen. Außerdem wusste er nun, dass der Mann sich selbst bedient hatte, ehe er ihm das Päckchen gegeben hatte. Mit wenigen Zeilen bedankte er sich: „Danke für die Vitamine. Bitte schicke mir weiter Neuigkeiten von Mutter!”

Text, der in einem Kuchen versteckt war, den Adolphe Arnold mit einem Paket erhielt
Text, der in einem Kuchen versteckt war, den Adolphe Arnold mit einem Paket erhielt

Bei einem weiteren Bombenangriff der Alliierten auf München wurde das Haus des SS Manns beschädigt. Er bekam ein paar neue Möbelstücke und bat um die Erlaubnis, den Häftling Adolphe die Stücke lackieren zu lassen. Adolphe lackierte die Schränke nicht nur, sondern bemalte sie mit bayerischen Motiven. Der SS Mann witterte nun die Möglichkeit, die künstlerische Begabung des Häftlings gewinnbringend einzusetzen. Er beabsichtigte ein Geschäft zu eröffnen, in dem Adolphe für ihn arbeiten und Textilien wie Halstücher und Schürzen bemalen und bedrucken sollte. Er sprach davon, dass Adolphe für diese Arbeit Ausgang aus dem Lager bekommen sollte und dass er sogar seine Frau und die Tochter zu ihm kommen lassen würde. Der Gedanke, seine Familie aus der schrecklichen Situation, in der sie sich tagtäglich befand, befreien zu können, ließ ihn zaghaft Hoffnung hegen.

Eugénies Brief an Adolphe, als er im Konzentrationslager Dachau inhaftiert war
Eugénies Brief an Adolphe, als er im Konzentrationslager Dachau inhaftiert war

Adolphe wurde oft zum Lagerkommandanten zitiert, wo er sich Polizeiberichte über seine widerspenstige Tochter anhören musste. Sie weigerte sich beständig, den Hitlergruß zu entbieten. Die Gestapo verhörte sie und verurteilte sie schließlich zum Aufenthalt in einem nationalsozialistischen Erziehungsheim. Jedes Mal, wenn Adolphe zum Hauptmann kam, wurde er verspottet oder bestraft, weil man ihm das Verhalten der Tochter zuschrieb. Dennoch füllte sich sein Herz mit Genugtuung, weil er sich dessen bewusst war, dass seine Tochter standhaft für ihren Glauben eintrat. In einem Brief an sie schrieb er: „Solange wir unserem Herzen folgen, verlieren wir die Freude nicht, denn das ist der Richter in uns selbst. Auch ist uns diese Freude der beste Garant in der Erkenntnis des Guten und der Hoffnungsanker, an dem unser Lebensschifflein sicher durch dieses stürmende Meer hindurch geführt wird.“

In eben diesem stürmenden Meer wäre Adolphe beinahe ertrunken. Einmal mehr zitierte ihn der Lagerkommandant zu sich, um sich anzuhören, dass das Gericht in Mühlhausen, die Strafe hatte vollstrecken lassen. Sein geliebtes Mädchen war der Mutter weggenommen worden und zur „Umerziehung“ nach Konstanz geschickt worden. Knapp zwei Monate später wurde Emma verhaftet und in das Konzentrationslager Schirmeck deportiert. Adolphe wusste, dass er nun keine Post mehr bekommen würde. Die Korrespondenz zwischen Häftlingen in verschiedenen Lagern war verboten. Die einzige Verbindung zur Außenwelt war nun Emmas Schwester Eugenie.

Auch wenn Adolphe im Herzen jubelte, weil seine Frau und seine Tochter für ihren Glauben standhaft eintraten, verwand er seine Trauer über die Festnahme seiner Lieben nicht. Er verlor alle Kraft. Ständiger Hunger, die Zwangsarbeit, der permanente Druck, seinem Glauben mittels Unterschrift abzuschwören, und die Gewissheit, dass Emma nun dasselbe durchmachte, brachten ihn an den Rand eines körperlichen und seelischen Zusammenbruchs. Als er in dieser Verfassung einmal in der Schlange vor den Duschräumen stand, hörte er das Gespräch von zwei anderen Häftlingen. Der eine Mann fragte den anderen, welchen Bibelvers der Pastor für dessen Konfirmation festgelegt hätte. Der andere antwortete: „Vertraue auf den Herrn mit deinem ganzen Herzen und stütze dich nicht auf deinen Verstand!“ Diese Worte wirkten wie wohltuendes Öl auf sein wundes Herz, wie die Stimme eines Engels – es war genau das, was Adolphe brauchte, um entschlossener denn je allem entgegenzutreten, was kommen würde. Die nächste Herausforderung ließ nicht lange auf sich warten.

Er erhielt den Befehl, sich bei der Kommandatur zu melden. Beim Eintreten bemerkte er, dass alle Diensthabenden SS Leute zugegen waren und auf ihn warteten. Der Kommandant hatte das Gesuch des SS Mannes erhalten, der um die Genehmigung bat, Adolphe außerhalb des Lagers arbeiten zu lassen. Dieses sollte bewilligt werden, doch vor Erstellung der erforderlichen Papiere verlangte man von ihm, einen großen Stapel Kisten mit Puppen zu bemalen. Es wurde hinzugefügt: „Wir transportieren keine Puppen. Es ist Munition.“ Adolphe verweigerte diese Arbeit. Niemals würde er den Krieg unterstützen; ebenso wenig lügen, auch nicht mit einem Pinsel.

Prozess Dr. Klaus Karl Schilling. Er war für Versuche mit Malariaerregern im Konzentrationslager Dachau verantwortlich. Er impfte mehr als 1000 Gefangene mit diesen Erregern (Foto: US Holocaust Memorial Museum)
Prozess Dr. Klaus Karl Schilling. Er war für Versuche mit Malariaerregern im Konzentrationslager Dachau verantwortlich. Er impfte mehr als 1000 Gefangene mit diesen Erregern (Foto: US Holocaust Memorial Museum)

Die SS Leute brachen in kollektives Gelächter aus. Das wollten sie auskosten. Einer gab sich als Jehova aus, ein anderer spielte Jesus. Adolphe konnte sich dieses gotteslästerliche Schauspiel nicht länger mit ansehen und sagte mit ruhiger kräftiger Stimme: „Meine Herren, bitte, Jehova ist der Name Gottes, des Allmächtigen!“ Alle verstummten, waren wie gelähmt von dem Gedanken, dass es ein Gefangener gewagt hatte, die mächtige SS zu korrigieren. Der Kommandant schrie: „Raus!“ Adolphe war sich sicher, dass er gehängt würde. Es vergingen Tage, ohne dass irgendetwas geschah. Doch die Angelegenheit war nicht in Vergessenheit geraten. Die Anweisung kam, ihn zum Versuchskarnickel zu gebrauchen.

Adolphe hatte sich in einem Spezialblock des Lagers zu melden, das von SS Ärzten geleitet wurde, die, wie der berüchtigte Dr. Mengele in Auschwitz, Menschenversuche an Häftlingen durchführten. Man nahm an, dass dieser Häftling ein starkes Abwehrsystem haben müsse. Er hatte immerhin Typhus überlebt. Daher wäre er als Versuchsperson geeignet, um Versuche mit Malariaimpfungen durchzuführen, die deutsche Soldaten schützen sollten, die auf dem Kriegsschauplatz im Norden Afrikas kämpften. Man befestigte einen kleinen Behälter an seine Ellenbeuge, direkt über der Vene, so dass die Mücken sich mit Leichtigkeit daran ernähren konnten. Der Behälter blieb sechs Wochen lang Tag und Nacht am Arm befestigt, während die Insekten ausgetauscht und mehrmals täglich Blutproben entnommen wurden. Die Impfungen blieben ohne Wirkung und Adolphe wurde angewiesen, sich einem LKW Transport anzuschließen. Jeder wusste, was dies bedeutete, doch während er gerade auf den Lastwagen steigen wollte, kam der SS Mann, für den er gearbeitet hatte, vorbei. Kurz darauf erschien ein Arzt und wies Adolphe an, wieder herunter zu steigen. Er sagte ihm, dass die Versuche noch nicht beendet seien. Er solle noch einige Tage auf der Krankenstation bleiben.