Die christliche Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, auch Internationale Bibelforscher genannt, wurde von Anfang an im Nationalsozialismus verfolgt und 1933 als erste Religionsgemeinschaft verboten. Die Nationalsozialisten gebrauchten vorwiegend die Bezeichnung Bibelforscher, weil ihnen der jüdische Gottesname Jehova und die Bezugnahmen auf die hebräische Bibel verhasst waren.
Zeugen Jehovas leisteten religiösen Widerstand gegen die Diktatur, indem sie den Hitlergruß, die Mitgliedschaft in NS-Organisationen sowie die Beteiligung an Krieg, Gewalt und Rüstungsproduktion verweigerten, sich mit anderen Opfergruppen solidarisierten und öffentlich über den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus aufklärten.
Im Deutschen Reich und weiten Teilen des nationalsozialistisch beherrschten Europa wurden Zeugen Jehovas systematisch verfolgt. Über die Hälfte der Angehörigen der Glaubensgemeinschaft – mindestens 10.700 deutsche Zeugen Jehovas und 2.700 aus den besetzten Ländern Europas, Frauen genauso wie Männer – erlitten direkte Verfolgung, zumeist in Form von Haft. Etwa 2.800 Zeugen Jehovas aus Deutschland und 1.400 weitere aus dem vom Nationalsozialismus besetzten Europa waren in Konzentrationslagern inhaftiert. Sie wurden dort mit einem eigenen Kennzeichen, dem „lila Winkel“, stigmatisiert und gehörten in den frühen Konzentrationslagern zu den größten Häftlingsgruppen. 1.250 der Verfolgten waren minderjährig, 600 Kinder wurden vom NS-Staat ihren Eltern weggenommen.
Mindestens 1.700 Zeugen Jehovas verloren durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ihr Leben.
Darunter sind auch die 282 wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichteten Zeugen Jehovas. Weitere 55 Kriegsdienstverweigerer kamen in der Haft oder in Strafeinheiten ums Leben. Es handelt sich um die größte Gruppe von Kriegsdienstverweigerern im Nationalsozialismus. Die Verankerung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geht wesentlich auf die Anerkennung für diese ermordeten
Zeugen Jehovas im Parlamentarischen Rat zurück.
Die am 17. August 1930 im Elsass geborene Simone Arnold-Liebster gehörte mit ihren Eltern zu einer Gruppe von Zeugen Jehovas in Mühlhausen. Der Schulbesuch wurde seit dem deutschen Einmarsch 1940 zur täglichen Prüfung ihrer Prinzipien: Das eigene Gewissen musste sich jeden Tag gegen den allgegenwärtigen Zwang erheben. Die „Germanisierung“ des Elsass verwandelte Lehrer in fanatische Nationalsozialisten. Simone Arnold-Liebster wurde psychisch und physisch misshandelt, von der höheren Schule verwiesen, schließlich im April 1943 ihrer Mutter entrissen und in eine NS-Erziehungsanstalt in Konstanz verschleppt. Dort musste sie Zwangsarbeit leisten und seelische Misshandlung durchstehen. Wäre die Befreiung nicht gekommen, hätte man sie mit 15 Jahren in ein Konzentrationslager überstellt.
Simone Arnold-Liebsters engster Freund Marcel Sutter wurde im Alter von 24 Jahren am 5. November 1943 in Halle wegen Kriegsdienstverweigerung enthauptet. Simones Vater Adolphe Arnold durchlitt seit seiner Verhaftung durch die Gestapo im September 1941 die Konzentrationslager Schirmeck, Dachau, Mauthausen und Ebensee, ihre Mutter Emma Arnold seit 1943 die Konzentrationslager Schirmeck und Gaggenau. Dort rettete sie unter Einsatz ihres Lebens anderen wie der später als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichneten Widerstandskämpferin Louise Blazer das Leben. Adolphe und Emma Arnold blieben zeit ihres Lebens von Haft und Folter gezeichnet, aber einem Weg der Versöhnung und der Mitmenschlichkeit verpflichtet.
Der am 15. Februar 1915 in Reichenbach im Odenwald geborene und am 28. Mai 2008 in Aix-les-Bains verstorbene Max Liebster, mit dem Simone Arnold-Liebster seit 1956 verheiratet war, stammte aus einer jüdischen Familie. Viele seiner Familienmitglieder wurden ermordet. Max überlebte die Konzentrations- und Vernichtungslager Sachsenhausen, Neuengamme, Auschwitz und Buchenwald.