Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas
Knapp 4.000 Gläubige bekennen sich im Deutschen Reich zur Bibelforschergemeinde.
Vor dem Ersten Weltkrieg erregte die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entstandene und seit dem späten 19. Jahrhundert in Deutschland aktive Bibelforscherbewegung kaum behördliche Aufmerksamkeit. Ihr Organ „Der Wachtturm“ erschien seit 1897 auf Deutsch, das Deutschlandbüro ihrer 1881 in den USA als Missions- und Bibelgesellschaft gegründeten „Wachtturm-Gesellschaft“ befand sich in Elberfeld und später in Barmen.Die „Apologetische Centrale“ wird vom „Centralausschuß für die Innere Mission“ der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin gegründet, um andere religiöse Bewegungen zu beobachten. Sie vertritt die konservativ-nationalistische Linie der Kirchenführung und agiert gegen religiösen Pluralismus (John Conway). Die Bibelforscher werden von der Apologetischen Centrale als „Sekte“ angegriffen.
Auch katholische sowie völkische, radikalnationalistische und nationalsozialistische Kreise (z.B. „Der Stürmer“, Dezember 1924) attackieren in den folgenden Jahren immer wieder die Bibelforscher u.a. als „jüdisch-bolschewistisch“. Die Internationalen Bibelforscher werden zum Hassobjekt antidemokratischer und antipluralistischer Kräfte.Reichskanzler Heinrich Brüning lehnt Vorschläge von Angehörigen der Reichstagsfraktion seiner Zentrumspartei ab, schärfer gegen „antikirchliche“ Bestrebungen vorzugehen.
Die Bibelforscher gewinnen Prozesse gegen Beschlagnahmungen ihrer Schriften in anderen deutschen Ländern, u.a. vor dem Badischen Verwaltungsgerichtshof am 15. Juni. Bis zum Ende der Republik kommt es zu mehreren tausend Prozessen, die die Religionsfreiheit der Bibelforscher betreffen. In einer großen Zahl der Fälle (in denen es zumeist um die öffentliche Mission und die Schriftenverbreitung geht) entscheiden deutsche Gerichte zugunsten der Religionsfreiheit der Bibelforscher.Adolf Hitler wird zum deutschen Reichskanzler ernannt.
Zu diesem Zeitpunkt zählt die Gemeinde der Zeugen Jehovas in Deutschland ca. 25.000 bekennende Glaubensangehörige, von einem Umfeld von weiteren 10.000 Gläubigen ist auszugehen.Zeugen Jehovas verweigern die Teilnahme an den Reichstagswahlen und werden attackiert, schikaniert und misshandelt. Die Misshandlungen und Verhaftungen nehmen im Lauf des Jahres zu. Zeugen Jehovas verweigern den „Hitlergruß“ und die Mitgliedschaft in NS-Organisationen wie der „Hitlerjugend“.
Erste Zeugen Jehovas werden in die frühen Konzentrationslager verschleppt und misshandelt.Hamburg führt einen morgendlichen Flaggenappell an Schulen ein, auch andere Länder machen u.a. Gedenkfeiern, Aufmärsche, Flaggengruß, Singen der Nationalhymne und des Horst-Wessel-Liedes an Schulen verpflichtend. Damit wird der Schulbesuch für Kinder und Jugendliche aus den Reihen der Zeugen Jehovas zur täglichen Qual und Gewissensnot. Vor allem ab 1936 finden zahlreiche Entziehungen des Sorgerechts statt, Kinder werden ihren als „staatsfeindlich“ geltenden Eltern weggenommen.
Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft entreißt bis 1945 insgesamt etwa 600 Kinder von Zeugen Jehovas ihren Eltern und weist sie Pflegefamilien zu oder verschleppt sie in Erziehungsanstalten.Eine Verhaftungswelle führt zur Inhaftierung fast der gesamten Führung der deutschen Zeugen Jehovas (u.a. am Berliner Goldfischteich am 22.8.). Viele werden unter Folter verhört. Bis Mitte 1937 sterben bei Verhören und in Gefängnissen 17 der inhaftierten Zeugen Jehovas.
Vermehrt finden vor Sondergerichten in allen Teilen des Reiches gegen Zeugen Jehovas Massenprozesse statt, die häufig bei der ersten Festnahme zu Geldstrafen, im Wiederholungsfall zu Haftstrafen führen, an die in vielen Fällen die KZ-Haft anschließt.Ein zweites Protestflugblatt, der im Bibelhaus der Zeugen Jehovas in Bern auf der Grundlage von aus Deutschland in die Schweiz geschmuggelten Verfolgungsberichten zusammengestellte „Offene Brief“, wird in zehntausenden Exemplaren verteilt. Eine noch größere Kampagne ist nicht möglich, weil Flugblätter nicht mehr über die deutsche Grenze gelangen. Der „Offene Brief“ verurteilt die „Barbarei in einem Lande der ‚Christenheit‘“ und nennt NS-Verbrechen und Täter beim Namen.
Eine auf diese Aktion folgende zweite große Verhaftungswelle führt im Herbst dazu, dass die Zeugen Jehovas keine flächendeckende Untergrundorganisation im Deutschen Reich mehr aufbauen können. Aber weiterhin bestehen Verbindungen zwischen vielen lokalen Netzwerken der Gemeinschaft.Im Europa-Verlag von Emil Oprecht, der vor allem deutsche Exilliteratur verlegt, erscheint in Zürich das Buch „Kreuzzug gegen das Christentum: Moderne Christenverfolgung. Eine Dokumentensammlung“, das der Deutsch-Amerikaner Martin Christian Harbeck, der Leiter des Zentraleuropäischen Büros der Zeugen Jehovas in Bern, aus Berichten zusammengestellt hat, die von Verfolgten aus Deutschland geschmuggelt wurden. Als nomineller Herausgeber fungiert sein Schweizer Stellvertreter Franz Zürcher.
Das Buch findet große Aufmerksamkeit in der Presse und wird von Thomas Mann unterstützt, der an Harbeck schreibt: „Ich habe Ihr so schauerlich dokumentiertes Buch mit grösster Ergriffenheit gelesen, und ich kann die Mischung von Verachtung und Abscheu nicht beschreiben, die mich beim Durchblättern dieser Dokumente menschlicher Niedrigkeit und erbärmlicher Grausamkeit erfüllte. […] auf jeden Fall haben Sie Ihre Pflicht getan, indem Sie mit diesem Buch vor die Öffentlichkeit traten, und mir scheint, einen stärkeren Appell an das Weltgewissen kann es nicht geben.“
In den Konzentrationslagern inhaftierte Zeugen Jehovas erhalten einheitlich einen „lila Winkel“ als Häftlingsabzeichen, nachdem seit 1936 unterschiedliche Abzeichen zur Stigmatisierung genutzt wurden.
In den vom Nationalsozialismus beherrschten Gebieten Europas erhalten während des Zweiten Weltkrieges Zeugen Jehovas gelegentlich auch andere Kennzeichen wie den „roten Winkel“ der politischen Häftlinge, wenn ihre Gruppenzugehörigkeit falsch eingetragen wird.
Die seit 1935 bei Zeugen Jehovas gebräuchlichen und seit Ende 1937 auch bei Zeuginnen Jehovas eingesetzten „Verpflichtungserklärungen“ werden auf Anordnung von Heinrich Himmler vereinheitlicht. Seit 1937 wurde die Verhängung einer KZ-Haft nach Verbüßung einer regulären Haftstrafe von der Unterzeichnung einer solchen „Erklärung“ abhängig gemacht.
Wurden die früheren, unterschiedlich formulierten Erklärungen, die häufig lediglich mit einem Schuldeingeständnis verbunden waren, von etwa 10 Prozent der Zeugen Jehovas in den KZ und bis zu 50 Prozent in den Gefängnissen unterschrieben, zumeist ohne Auswirkung auf ihre erneute Untergrundaktivität als Zeugen Jehovas nach der Freilassung, wird die vereinheitlichte „Erklärung“ von den meisten Zeugen Jehovas nicht mehr unterschrieben.
Der Glaube der Zeugen Jehovas wird darin als „Irrlehre“ bezeichnet, der Bibelforschervereinigung die Verfolgung „staatsfeindlicher Ziele“ unter dem „Deckmantel der religiösen Betätigung“ vorgehalten. Mit der Unterzeichnung wird erklärt: „Ich habe mich deshalb voll und ganz von dieser Organisation abgewandt und mich auch innerlich von der Lehre dieser Sekte freigemacht.“ Die „Erklärung“ verpflichtet zur Denunziation anderer Bibelforscher und zur Eingliederung in die „Volksgemeinschaft“.Der Zeuge Jehovas August Dickmann wird als erster Kriegsdienstverweigerer vor anderen Häftlingen im KZ Sachsenhausen erschossen. Die Hinrichtung wird vom NS-Regime öffentlich gemacht, die „New York Times“ berichtet am 17.9. darüber.
Seit Kriegsbeginn wird Kriegsdienstverweigerung mit dem Tode bestraft. Bis 1945 werden 282 Zeugen Jehovas wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet. Weitere 55 Kriegsdienstverweigerer kommen in der Haft oder in Strafeinheiten ums Leben.Befreiung aus den Konzentrationslagern und Ende der NS-Gewaltherrschaft.
In ganz Europa fielen etwa 1.700 Zeugen Jehovas dem NS-Terror zum Opfer, 4.200 waren in Konzentrationslagern inhaftiert, insgesamt etwa 14.000 wurden verfolgt.
Überfall auf das Bibelhaus in Magdeburg, Beschlagnahmung des Eigentums der Religionsgemeinschaft. Beginn einer Verhaftungswelle, die mindestens 300 Zeugen Jehovas in der DDR erfasst. Einige von ihnen sterben in der Haft.
Beinahe 700 NS-Opfer werden in der SBZ bzw. der DDR erneut verfolgt. Insgesamt 65 Zeugen Jehovas kommen durch DDR-Verfolgung ums LebenDas MfS leitet die Operation „Sumpf“ ein, um die gesamte Untergrundleitung der Zeugen Jehovas in der DDR auszuschalten und zu verhaften.
Schon zuvor werden neben offener Repression zahlreiche MfS-Operationen eingeleitet, die auf eine Unterwanderung der Gemeinden der Zeugen Jehovas abzielen. Gleichzeitig füttert das MfS westdeutsche Medien mit Falschinformationen über Zeugen Jehovas, oft auch über die NS-Verfolgung, die heruntergespielt oder geleugnet werden soll.
Wehrdienstverweigerer werden in der DDR nicht länger wegen Kriegsdienstverweigerung bestraft.
Zahlreiche Nachteile, wie Nichtzulassung zum Studium oder einer beruflichen Ausbildung, bleiben bestehen.Dennis Christensen wird aus der Haft entlassen und nach Dänemark ausgewiesen.
Zu diesem Zeitpunkt sind weitere 91 Zeugen Jehovas, Männer wie Frauen, aus Glaubensgründen in russischen Gefängnissen inhaftiert.
Zahlreiche Folterungen und Misshandlungen von Zeugen Jehovas in Gefängnissen und durch russische Behörden seit 2018 sind belegt und werden von Menschenrechtsorganisationen und der internationalen Staatengemeinschaft kritisiert.
Zusammengestellt von Dr. Tim Müller