Eugenie wuchs zu einer lebendigen jungen Dame heran. Sie liebte es, Samstags abends tanzen zu gehen. Emma mußte als ihre Anstandsdame mitgehen. Sie saß den ganzen Abend da und wartete, bis Eugenie alle ihre Tanzpartner müde getanzt hatte. Ein junger Mann namens Adolphe Arnold saß oft an einem Tisch in der Nähe und wartete geduldig als Begleitperson für seine Schwester. Adolphe und Emma fingen an sich zu unterhalten. Emma erfuhr, daß Adolphe auch in einer Spinnerei gearbeitet hatte. Sie hatten so viele Dinge gemeinsam, daß sie beschlossen, ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Adolphe ging hinauf nach Bergenbach, um um Emmas Hand anzuhalten. Es wurde ein eisiger Empfang. Als ein armer junger Mann aus einer armen Familie ohne Grund und Boden oder Vieh konnte er unmöglich wissen, was Arbeit bedeutet. Künstler war kein richtiger Beruf, außerdem war er so dürr. Zwar konnte Marie es nicht verweigern oder sich einmischen, denn Emma war beinahe 26. Aber ihre schneidenden Bemerkungen machten das Leben nicht nur für Emma sondern für die ganze Familie anstrengend.
Als der Hochzeitstermin näher rückte hatten Marie und ihr zukünftiger Schwiegersohn eine hitzige Diskussion. Marie wollte eine große Hochzeit ausrichten, ohne über das notwendige Geld zu verfügen. Sie hatte sich entschlossen, es sich zu leihen. Adolphe war absolut dagegen. Er war niemand, der sich einen besseren Anschein geben wollte. Warum so tun, als hätte man Geld, wenn es nicht so war. Er verfügte nur über einen Wochenlohn und Emma erhielt als Mitgift von ihrer wütenden Mutter nur den Lohn für drei Tage zurück. Um seine Schwiegermutter zu besänftigen, erklärte Adophe sich einverstanden, die hohen Kosten für eine besondere Heiratszeremonie in der Wallfahrtskirche von Oderen zu bezahlen.
Arnolds konnten es sich selbst mit ihren beiden Einkommen kaum leisten, einen winzigen Raum mit Küche in dem Dorf Oderen zu mieten. Von ihrer älteren Vermieterin erhielten sie ein altes Bett und einen Tisch. Sie saßen auf Kisten statt auf Stühlen. Nachdem sie vier Jahre gespart hatten, zogen sie in ein Häuschen in der firmeneigenen Siedlung mit dem Namen Blättmat, die der Wesserling Fabrik gehörte, wo Adolphe arbeitete. Sie beschlossen, daß die Zeit für Kinder gekommen war.
Der Winter 1928-1929 war so kalt, daß alle Rohre, Quellen und Flüsse zufroren. Um das dicke Eis zu durchbrechen, um Wasser zu holen, benötigte man eine Axt. Emma war schwanger, als sie zum Fluß hinunterging, den Eimer vor sich haltend. Plötzlich rutschte sie aus und fiel vornüber auf ihren Bauch. Das Ehepaar betrauerte den tragischen Verlust ihres kleinen Jungen.
Beinahe zwei Jahre später kam für Emma die Zeit für die Geburt ihres zweiten Babys. Zu hause lag sie mehr als einen Tag in heftigen Wehen und keuchte vor Erschöpfung. Die Hebamme wußte nicht mehr weiter und sagte Adolphe, er solle den Arzt holen, der herbeieilte und Emma in ihrem Leiden vorfand. Er nahm Adolphe zur Seite und fragte ihn, wen er retten solle, seine Frau oder sein Kind. In seiner Verzweiflung sagte Adolphe dem Arzt, er solle Emma retten.
Der Arzt legte das schlaffe bläuliche Kind zur Seite auf ein Kissen und wandte seine Aufmerksamkeit Emma zu. Eugenie tat, was sie konnte, um der Hebamme und dem Arzt zu helfen, ihre Schwester zu retten, aber als sie das Neugeborene bewegungslos daliegen sah, schrie sie auf. Der Arzt nahm das kleine Mädchen, hielt es kopfüber an den Füßen ud gab ihr einen Klaps. Lautes Geschrei erleichterte sie alle und der Arzt wandte sich wieder Emma zu.
Das Baby wurde Simone genannt, aber sie sollte auch unter dem Schutz der Jungfrau Maria stehen. Marie Simone wurde am 17. August geboren. Ihre Mutter hatte zwei Tage in Wehen gelegen. Eugenie, die schon verwitwet war, lebte mit Arnolds zusammen und pflegte Mutter und Kind. Marie kam von Bergenbach herunter nach Wesserling um Eugenie ihren fachmännischen Rat zu den richtigen Kräutern für Emma und das Baby zu geben. Mit Eugenies Hilfe erholte Emma sich schnell und brachte ihre Tochter nach acht Tagen in die Kirche, wo sie getauft wurde. Adolphe hatte entschieden, daß die Hebamme das Baby zum Altar tragen und den Ehrenplatz bei der Familienfeier erhalten würde.
Religion nahm einen wichtigen Platz im Heim der Arnolds ein, aber sie glaubten auch an die eigene Verantwortung. Aus Dankbarkeit, daß Mutter und Kind am Leben waren, entschlossen sich Arnolds, Emmas Leben nicht noch einmal durch eine Geburt zu gefährden. Simone würde ein Einzelkind bleiben, obwohl sie als fromme Katholiken Verhütungsmittel nicht hätten anwenden dürfen. Emma nutzte ihre Nähkünste, pflanzte einen Gemüsegarten und kochte ein, um mit dem geringen Einkommen auszukommen. Regelmäßig ging sie nach Bergenbach, um nach ihrer Mutter und Germain zu schauen, der als einziges Kind noch zu Hause war.
In der großen Stadt
In der Wesserling Fabrik, in der Adolphe als Berater für Kunst arbeitete, sprachen die Aufseher, selbst wenn sie elsässisch konnten, nur französisch. Damit wollten sie sich als Teil der „high society“ darstellen und sich von der Sprache der einfachen Arbeiter distanzieren. Emma wollte, daß ihr Ehemann gut dastand und kopierte jeden Tag Seiten um Seiten französisch. Gerade als das Leben geregelt und sicher erschien, brach in der Gegend sozialer und politischer Aufruhr aus. Wegen der geschwächten Wirtschaft wurde Adolphes Textile Stoffdruckerei geschlossen und verkauft. Ein anderer Textilienhersteller in Mühlhausen bot Adolphe eine Stelle an. Für ein langes Jahr fuhr er jeden Tag nach Mühlhausen und zurück, während dessen er seine Tochter nur schlafend sah, morgens, bevor er den Frühzug nahm für einen Blick und dann wieder spät abends, wenn er nach Hause kam. Schließlich bot die Textile Druckerei Adolphe 1933 eine Wohnung in Mühlhausen-Dornach an.
Arnolds fanden das Leben in der Stadt überhaupt nicht reizvoll. Ihre kleine Hündin Zita war überhaupt nicht glücklich über den Umzug. Das Leben in einer Wohnung war eine ebenso dramatische Veränderung wie Adolphes Arbeit. Er mußte jeden Tag ein frisches weißes Hemd anziehen, was sich die Arnolds jedoch nicht leisten konnten zu kaufen. Emma kaufte daher Stoffreste von der Textilen Druckerei und nähte Hemden für Adolphe. An den Wochenenden kehrten sie oft in ihre geliebten Berge zurück und besuchten Adolphes Stiefvater, Paul Arnold, in Krüth. Auf sich allein gestellt zog er die zwei Kinder auf, die Adolphes Schwester bei ihrem Tod hinterlassen hatte. Sie gingen auch hinauf nach Bergenbach und halfen auf dem Hof. Eugenie arbeitete als Gouvernante im Elsaß und Valentine war viel zu sehr eine Dame, um auf dem Hof zu arbeiten.
Der soziale und politische Aufruhr stellte eine Gefahr für das Leben und den Lebensunterhalt dar. Deutschland begann seine Armee zusammenzuziehen, worauf Frankreich antwortete, indem es sein Verteidigungssystem, die Maginot-Linie, verstärkte. Dieses System war entlang des Rheins errichtet worden, um einen direkten deutschen Angriff abzuwehren und das Elsaß und Lothringen zu schützen.
Bekehrung und Kontroversen
Innerhalb der Familie Arnold begann ein anderer Aufruhr zu entstehen. Adolphe und Emma hatten einen Priester bei sexuellem Fehlverhalten gesehen. Dies beunruhigte Emma so sehr, daß sie sich weigerte, die Kirche zu besuchen, der dieser Priester vorstand. Etwa zur gleichen Zeit waren zwei Männer aus Basel, Schweiz, an ihre Wohnungstür gekommen und hatten ihr einige Broschüren gegeben, sie sich mit der Bibel beschäftigen. Emma kaufte sich eine Bibel, um die Zitate nachzulesen, und bestellte trotz Adolphes Mißfallen weitere Broschüren. Immer hatte Emma Adolphes Wohlergehen und Glück an die erste Stelle gesetzt, aber nachdem sie überzeugt war, die biblische Wahrheit gefunden zu haben, widersetzte sie sich Adolphe offen, der darauf bestand, daß sie die Literatur der Bibelforscher, auch Jehovas Zeugen genannt, nicht weiter lese. Niemand, nicht einmal ihr Ehemann, durfte sich einmischen, wenn es um ihre religiösen Rechte und Überzeugung ging. Adolphe verfiel in Schweigen und sprach nur noch, wenn nötig. Er wurde wegen des Bruchs ihrer bisher harmonischen Ehe zum Kettenraucher.
Emma besuchte ihre Nachbarn, um ihren neuen Glauben mit ihnen zu teilen. Sie las der sieben Jahre alten Simone aus der Bibel vor. Simone wollte daraufhin nicht mehr zur Messe gehen, aber Emma forderte sie auf, ihren Vater zu respektieren und mit ihm zur Messe zu gehen, ohne sich zu beklagen. Simone begann schon bald, ihrem Vater religiöse Fragen zu stellen, die dieser nicht beantworten konnte. Nach beinahe einem Jahr gab Adolphe es auf, Simone mitzunehmen, um sich selbst von dieser Tortur zu befreien. Er würde es mit einer anderen Strategie versuchen und bestellte deshalb ein Buch der Bibelforscher mit dem Titel „Schöpfung“. Er würde die Lehren als Ketzerei und Unsinn entlarven. Was er las, überzeugte ihn jedoch davon, daß Emma Recht hatte. Zuerst wurde Emma 1938 in Basel als Zeugin Jehovas getauft. Im nächsten Jahr ließ Adolphe sich taufen. Gleichzeitig drohte Kriegsgefahr und Adolphe erhielt seinen Einberufungsbescheid.
Während des Sudetenkonflikts verließ Adolphe, der um die 40 Jahre alt war, seine Frau und Tochter, kehrte aber nach kurzer Zeit nach Hause zurück. Er erklärte Emma, wenn er nochmals einberufen werde, würde er sich weigern. Beide wußten, daß diese Gewissensentscheidung von Adolphe ihn im Falle des Ausbruchs eines offenen Krieges das Leben kosten konnte. Doch Emma unterstützte seine Überzeugung mit ihrem eigenen starken Glauben.
Ihm Hinblick auf die in der Luft hängende Kriegsangst wollten Arnolds ihren jeweiligen Familien die biblische Hoffnung vermitteln. Sie gingen zuerst nach Bergenbach, wo sich die ganze Familie für ein gemeinsames Essen versammelt hatte. Ihr Besuch beschwor einen Chor von häßlichen Worten herauf. Nur Remy blieb still und ging seinen täglichen Pflichten nach. Adolphe floh mit Simone und ließ Emma allein zurück, um sich mit ihren empörten Geschwistern und ihrer wutentbrannten Mutter auseinanderzusetzen. Er ging nach Krüth hinunter, um seinem Stiefvater Paul Arnold eine Bibel zu geben. Die Bibel lag noch keine Minute auf dem Tisch, als sein Stiefvater, dem er tiefen Respekt zollte, sie aus dem Fenster warf und Adolphe aus dem Haus warf. Beide Seiten der Familie warfen sie an demselben Tag aus dem Haus. Sogar Eugenie, die in Mühlhausen wohnte, weigerte sich, ihre abtrünnige Schwester zu treffen. Sie besuchte nur ihre Nichte Simone, wenn diese aus der Schule kam.
Während dieser unruhigen Vorkriegsjahre war Emma trotz der Arthritis in den Füßen kein Weg zu weit, um geistige und materielle Hilfe zu leisten. Ihre beste und eifrigste Schülerin war ihre eigene Simone, der sie die hohen Moralbegriffe ihres Vaters und dessen Sinn für das Praktische vermittelte. Sie lernte zu nähen, zu stricken, zu kochen und hatte Kunst- und Musikunterricht. Von ihrer Mutter lernte sie zudem, geschickt mit der Bibel zu lehren. Arnolds nahmen aktiv an den religiösen Tätigkeiten der Versammlung der Jehovas Zeugen in Mühlhausen teil. Direkt bevor der Krieg ausbrach, verbot die französische Regierung ihre Religion.