95-Jährige erlebt Stolperstein-Verlegung – Familie half jüdischen Nachbarn

Foto der am 4.11.2024 verlegt Stolpersteine für Otto, Herta, Elisabeth, und Otto Fickert (Quelle: privat).
Am 4.11.2024 in Sachsenburg verlegte Stolpersteine für Familie Fickert (Quelle: privat).

Elisabeth Dopazo (95) erlebte, wie für sie, ihren Bruder und ihre Eltern Stolpersteine verlegt werden. Obwohl selbst in der NS-Zeit als Zeugen Jehovas verfolgt, half ihre Familie jüdischen Nachbarn.

Otto Fickert, der Vater von Elisabeth Dopazo, starb am 7. Februar 1940 im KZ Sachsenhausen, im Alter von 36 Jahren. Fünf Jahre zuvor, im März 1935, war er erstmals in einem KZ inhaftiert, im KZ Sachsenburg, direkt in seinem sächsischen Wohnort in der heutigen Mittweidaer Straße im Frankenberger Ortsteil Sachsenburg.

Von den tausenden Männern, die zwischen 1933 und 1937 im KZ Sachsenburg in der Nähe von Chemnitz inhaftiert waren, war der Friseur Otto Fickert nach aktuellem Forschungsstand der Häftling, dessen Wohnort am nächsten an diesem frühen KZ lag. Elisabeth hatte als Vorschulkind einen Weg von nur gut einem Kilometer, um seinem Vater Essen in das Lager zu bringen.

Foto der Geschwister Elisabeth und Otto Fickert, 1931 (Quelle: Privatbesitz Elisabeth Dopazo).
Geschwister Elisabeth und Otto Fickert, 1931 (Quelle: Privatbesitz Elisabeth Dopazo).

Die Stadt Frankenberg betont die zentrale gesellschaftliche Bedeutung von Gedenkstätten wie Sachsenburg. Sie würden deutlich machen, dass „der nationalsozialistische Terror kein abstraktes, fernes Geschehen war, sondern ein Verbrechen und eine Tragödie, die direkt vor der eigenen Haustür stattfinden konnte und Menschen wie uns betraf“.

Mit der Stolperstein-Verlegung für die Familie Fickert würde nach Angaben der Stadt Frankenberg auch unterstrichen, dass die Geschichte des Konzentrationslagers Sachsenburg, in dem unter anderen Otto Fickert inhaftiert war, untrennbar mit der Geschichte der Gemeinden Sachsenburg und Frankenberg verbunden ist.“

Im Beisein von Frankenbergs Bürgermeister Oliver Gerstner (CDU) wurden am 4. November 2024 im 500-Einwohner-Ort Sachsenburg vier Stolpersteine für das Ehepaar Herta und Otto Fickert sowie ihre beiden in Sachsenburg geborenen Kinder Elisabeth und Otto verlegt. „Mit den Stolpersteinen möchten wir nicht nur die Geschichte sichtbar machen, sondern auch einen Beitrag zur lokalen Erinnerungskultur leisten“, sagte der Bürgermeister im Vorfeld.

Über eine Video-Übertragung war auch Elisabeth Dopazo, die Tochter von Herta und Otto Fickert dabei, die bei Boston/USA lebt. Die 95-Jährige sprach bewegende Worte. Ein Enkel von Herta Fickert sagte: „Jeder Stolperstein erzählt eine Geschichte. Unsere Aufgabe ist es, diese Geschichte zu wahren und zu ehren. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, Werte wie Toleranz, Respekt und Menschlichkeit hochzuhalten. Mögen diese Stolpersteine ein Aufruf an alle sein, aktiv gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeiten einzutreten.“

Elisabeth Dopazo, geb. Fickert, 2023 (Quelle: Privatbesitz Elisabeth Dopazo).

Unter den etwa 50 Anwesenden vor Ort bei der Stolperstein-Verlegung war auch eine 1946 geborene Tochter von Herta Fickert, die nach dem KZ-Tod ihres Mannes nochmals heiratete. „Mit der Unterstützung der Stolperstein-Verlegung möchten wir das Gedenken an die von der NS-Diktatur verfolgten Mitbürgerinnen und Mitbürger ehren“, sagte Dr. Mykola Borovyk, der sich im Auftrag der Stadt Frankenberg mit der Entwicklung der Gedenkstätte in Sachsenburg befasst.

Die Stolpersteine sind ein 1992 begonnenes Projekt des Künstlers Gunter Demnig. „Mein Konzept war es von Anfang an, dass die Stolpersteine für alle Opfergruppen gedacht sind, und dass Familien, die durch die Verfolgung getrennt wurden, im Gedenken symbolisch wieder vereint werden“, sagt Günter Demnig und denkt an unzählige jüdische Familien, die oftmals nicht alle ihre Kinder retten konnten, wenn überhaupt ein Kind der Familie in Sicherheit gebracht wurden konnte.

Am 19. Juli 1997 verlegte der Künstler die ersten Stolpersteine mit behördlicher Genehmigung. Diese beiden Stolpersteine erinnern an die beiden Zeugen Jehovas Johann und Matthias Nobis. Die Brüder verweigerten aus Gewissensgründen den Kriegsdienst und wurden deshalb im NS-Regime 1940 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Auch 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs kommt es noch vor, dass Stolpersteine – wie jetzt auch in Sachsenburg – für noch lebende Verfolgte verlegt werden, sagt der 76-jährige Gunter Demnig. 2005 in Rotenburg/Wümme trafen sich, so erzählt der Künstler, beispielsweise zwei Schwestern – für die zwei der dortigen sechs Steine verlegt wurden – nach 60 Jahren wieder. Gunter Demnig bewegen solche Geschichten. „Allein schon aufgrund solcher Familienzusammenführungen lohnt sich das Projekt“, sagt er und betont: „Stolpersteine sind keine Grabsteine.“

„Es ist unsere gemeinsame Pflicht, die NS-Verbrechen vor dem Vergessen zu bewahren, um ihre Wiederholung in der Zukunft zu verhindern“, erklärt der Historiker Dr. Mykola Borovyk. Ein Detail der Geschichte der Familie Fickert im Nationalsozialismus wird indes in der 2024 erschienenen zweiten Auflage des Buches „Die unbekannten Judenhelfer – Wie Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus jüdischen Mitmenschen beistanden“ beleuchtet.

„Nach ihrer Verhaftung konnte Herta Fickert ihre Kinder unter Polizei-Bewachung noch zu ihren Eltern nach Lübeck bringen. Dort erlebten die Fickert-Geschwister, wie ihre Großeltern, ebenfalls Zeugen Jehovas, jüdischen Nachbarn halfen“, berichtete der Autor Christoph Wilker. „Nachdem das Buch 2022 erschienen ist, wandten sich mehrere Leser mit weiteren, bislang unbekannten Geschichten an mich. Dazu zählt die Geschichte der Familie Fickert aus Sachsenburg“, erklärte Christoph Wilker, der sein Buch nach der Stolperstein-Verlegung in Sachsenburg vorstellte.

Foto der Familie Fickert - Elisabeth Mitte, Herta, links, Otto rechts (Quelle: Privatbesitz Elisabeth Dopazo).
Familie Fickert – Elisabeth Mitte, Herta, links, Otto rechts, 1934 (Quelle: Privatbesitz Elisabeth Dopazo).

Für Elisabeth Dopazo, die seit Jahrzenten in den USA lebt und noch bis ins Alter von 90 Jahren Schulklassen besuchte, um ähnlich wie Simone Arnold-Liebster Kinder und Jugendliche über die Ereignisse in Hitler-Deutschland zu informieren und auch an die Verfolgungsgeschichte ihrer Familie zu erinnern, war die Hilfe für ihre jüdischen Nachbarn nach ihren Worten das einzige positive Erlebnis in der NS-Zeit, das ihr im Gedächtnis geblieben ist – und das nachhaltig in der Familie nachwirkte.

2020 gab Elisabeth Dopazo der USC Shoah Foundation als Teil der „Last Chance Testimony Collection Initiative“ ein langes Video-Interview und berichtete von ihren Kindheitserlebnissen in Sachsenburg und Lübeck und der Verfolgung ihrer Familie unter dem Nationalsozialismus. Einen viereinhalbminütigen Auszug veröffentlichte die USC Shoah Foundation 2023 auf YouTube.

Zu Beginn der Buchvorstellung im Kommunikations- und Dokumentationszentrum der Gedenkstätte KZ Sachsenburg hielt der Dresdener Historiker Dr. Gerald Hacke von der Gedenkstätte Münchener Platz einen Impulsvortrag mit dem Thema „Zeugen Jehovas und das KZ Sachsenburg. Zur Funktion der Schutzhaft bei der Verfolgung einer religiösen Minderheit“.

Ende Oktober 2024 hat die Stadt Frankenberg unterdessen nach eigenen Angaben, mit finanzieller Unterstützung der Sächsischen Staatsregierung, den ersten Bauabschnitt für eine würdige Gedenkstätte am Ort des ehemaligen Konzentrationslagers gestartet. In dieser Phase sollen demnach die historische Stützmauer mit der Inschrift, die von KZ-Häftlingen angefertigt wurde, restauriert, die Überreste der Kommandantenvilla umgestaltet und die für den Betrieb der Gedenkstätte notwendige Infrastruktur geschaffen werden.

2025 ist die Sanierung des ehemaligen Lagerkommandantengebäudes geplant, das zukünftig als Besucherzentrum dienen soll. Dort sollen eine Dauerausstellung, Seminarräume, ein Archiv und eine Bibliothek ihren Platz finden. Die Fertigstellung der Gedenkstätte ist laut der Stadt Frankenberg für 2027 vorgesehen.

„Mir ist es ein großes Anliegen, dass an meinen Vater gedacht wird. Aber genauso auch an meine Mutter, die schließlich auch eine lange Zeit allein wegen ihres Glaubens im Gefängnis gelitten hat“, sagt Elisabeth Dopazo, die zu den vielen Kindern von Zeugen Jehovas gehört, die während des Hitler-Regimes unter Verfolgung litten. „Auch für meinen Bruder und mich war die Zeit im Nationalsozialismus sehr schwierig. Wir haben keine normale Kindheit gehabt. Wir haben als Kinder ständig in Angst gelebt.“