Die deutsche Armee umging die Maginot Linie und fiel im Juni 1940 in Frankreich ein, wo sie mit Gewalt das ehemals deutsche Elsaß zurückeroberten. Emma befürchtete, daß der durch den Krieg verursachte Mangel das Stadtleben hart treffen würde. Ihre Schwester Eugenie hatte vor, in dem Dorf Oderen Zuflucht zu suchen. Emma bat ihre mürrische Schwester, Simone mit nach Bergenbach zu nehmen. Als ihre Großmutter Simone sah, erinnerte sie sich wieder daran, daß Arnolds ihre geliebte Kirche verlassen hatten. Sie verunglimpfte Simone als ein Kind des Teufels. Simone packte ihre wenigen Sachen und lief weg zu der Wohnung ihrer Tante in Oderen. Dieser schmerzhafte Konflikt überzeugte Eugenie, daß sie sich eine Bibel kaufen müsse, um Emma beweisen zu können, daß sie im Irrtum war. Ihr Bibellesen führte sie stattdessen zu dem Schluß, daß ihre Schwester auf dem richtigen Weg war und daß sie den gleichen Weg gehen würde. Da die deutschen Besatzer Jehovas Zeugen bereits grausam verfolgten, erforderte eine solche Entscheidung einen starken Glauben.
Die Zeugen in Mühlhausen hatten schon begonnen, aus dem Untergrund heraus wirksam tätig zu sein. Adolphe tat sich mit einem ungewöhnlich mutigen Mann, Adolphe Koehl, einem Barbier aus Mühlhausen, der schon lange ein Zeuge war, zusammen. Kleine Gruppen trafen sich zu geheimen Zusammenkünften in Privatwohnungen, wobei sie von einem Ort zum
anderen wechselten, um nicht verraten zu werden. Adolphe führte regelmäßig Bibelstudien mit interessierten Personen durch, wirklich eine gefährliche Aufgabe. Obwohl Emma um seine Sicherheit fürchtete, zeigte sie niemals ihre Gefühle, sie ermunterte ihn vielmehr auf jede Art und Weise. Nachts aus dem Haus zu gehen, war eine zusätzliche Herausforderung. Wegen Luftangriffen war Verdunklung angeordnet, und Adolphe konnte plötzlich über eine Zivilpatrouille oder eine Militärpatrouille stolpern. Die Augen der Nazispione waren überall, jederzeit bereit, Familien mit verdächtigem Verhalten zu denunzieren. Geheiminformanten breiteten sich überall in den besetzten Gebieten aus und belauschten die Menschen, immer darauf bedacht, die zu finden, die es wagten, einen ausländischen Radiosender zu hören oder geringschätzig über den Führer zu sprechen. „Paß auf, die Wände haben Ohren“ war zu hören. Die biblische Anweisung, vorsichtig wie Schlangen zu sein, traf in dieser gefährlichen Situation sicherlich zu.
Die Deutschen errichteten ein 3 Kilometer breites Sperrgebiet, um in den Bergen der Vogesen, die die deutsch-französische Grenze bildeten, unberechtigte Bewegungen zu verhindern. Familien, die in dieser Gegend wohnten, mußten Ausweispapiere mit sich tragen, die sie als Anwohner auswiesen. Emma begann in dieser Gegend mit dem Bergsteigen, aber nicht als Hobby. Sie und Simone begleiteten Adolphe Koehl jeweils am ersten Sonntag eines Monats zu einem kleinen See, der von Felsbrocken und Höhlen umgeben war. Es war ein perfektes Versteck für ein geheimes Rendezvous. Ein französischer Zeuge schlich sich heimlich über die Grenze und versteckte eine Ausgabe des verbotenen Wachturms in einer bestimmten Höhle, von wo die Bergsteiger sie herausholten. Simone bestand darauf, die Schmuggelware in einem verborgenen Gürtel, den ihre Mutter angefertigt hatte, zu tragen. Bei einer Wanderung wurden die drei von einer deutschen Grenzpatrouille außerhalb des erlaubten Gebiets gefunden. Adolphe und Emma wurden verhaftet und gründlich durchsucht, da es jedoch als unnötig angesehen wurde, ein junges Mädchen zu durchsuchen, entkamen die Wanderer ohne Zwischenfall.
Der Barbier Adolphe Koehl und seine Frau und die Arnolds wurden sehr enge Freunde. Sie trafen sich entweder in dem Friseurgeschäft oder in dem Gartenhaus von Koehls, wo sie ohne das Risiko ausspioniert zu werden miteinander sprechen und auch einige Unterlagen sicher verstecken konnten.
Die Gestapo verhaftet Adolphe
Adolphe arbeitete Frühschicht, sodaß er zum Mittagessen um 14.00 Uhr zu Hause sein würde. Als die Klingel läutete, war Emma in der Küche beim Kochen und schickte daher Simone zur Tür, um ihrem Vater zu öffnen. Das nächste, was sie hörte, war ein zackiges „Heil Hitler“, gefolgt von dem drohenden Gestapobefehl an Simone „Geh in Dein Zimmer“. Emma kam aus der Küche und stand zwei Männern gegenüber, die eingetreten waren und sich unaufgefordert hingesetzte hatten. Sie befahlen ihr, sich auf den Stuhl gegenüber einem kleinen, nervösen Mann, der die Vernehmung leiten würde, zu setzen. Der andere Mann setzte sich in die Ecke, notierte ihre Antworten und wiederholte die Fragen, wenn ihre Antworten ihm missfielen.
Wen besucht sie? Wer kam gestern zu Besuch? Wo werden die Zusammenkünfte abgehalten? Besitzt sie verbotene Literatur der Zeugen Jehovas? Teilen Sie uns die Namen anderer Zeugen mit. Und so weiter. Ihr Ziel war, sie dazu zu bringen, ihre Glaubensbrüder und -schwestern
zu verraten. Nachdem sie drei Stunden verhört worden war, schrieb Emma unter Zwang einige Namen auf. Bei diesen handelte es sich jedoch nicht um Brüder, die zu der Versammlung Mühlhausen gehörten, sondern es waren Glieder des Schweizer Büros der Zeugen. Der Gestapobeamte schlug sein Notizbuch verärgert zu. „Sie sind eine Gerissene“. Einer der beiden sagte „Wenn Sie Ihren Ehemann wiedersehen wollen, sollten Sie daran denken, daß er sich in unserer Gewalt befindet“. Der andere brüllte sarkastisch „Kommen Sie bei uns vorbei. Sie und ihre Tochter werden dasselbe Schicksal erleiden. Wir werden wiederkommen und sie verhaften“.
Nachdem die Männer die Treppe hinunter gestapft waren, nahm Emma Simone sofort in die Arme und betete mit ihr, wobei sie versuchte, ihre eigenen Gefühle in Schach zu halten. Es hatte keinen Sinn, sich zu viele Gedanken zu machen. Von diesem Tag an schlief sie mit Simone im gleichen Zimmer, so daß sich ihre Tochter sicher fühlen konnte und beruhigt war. Hierdurch ergab sich auch die Gelegenheit zu vertrauten Gesprächen, durch die sie ihrer Tochter den Wunsch, vor allem anderen Gott wohlzugefallen, einpflanzen konnte und ihr auch helfen konnte, im Glauben zu wachsen und auf den weisen Rat der Bibel zu vertrauen. Emma stellte die Möbel um, damit Zita nicht länger jaulend vor Adolphes leerem Sessel saß. Sie kaufte einen günstigen Tisch mit einem Mittelfuß. Sie nahm die Tischplatte ab, sägte einige Zentimeter des Tischbeins ab, fertigte eine flache Sperrholzkiste an, die an zwei Seiten offen war und befestigte diese zwischen dem Tischbein und der Tischplatte. Dies war eine leicht erreichbare Stelle, um biblische Literatur zu verstecken.
Adolphe war am Zahltag verhaftet worden und die Gestapo hatte seinen Monatslohn beschlagnahmt. Auf der Bank erfuhr Emma von einem Angestellten, daß die Polizei ihr Bankguthaben eingefroren hatte. Das Arbeitsamt weigerte sich, ihr eine Arbeitserlaubnis auszuhändigen, und verweigerte ihr so die Möglichkeit, Arbeit zu finden. Die Beamten im Arbeitsamt bezeichneten sie als „Ungeziefer“, die keinen Arbeitplatz verdiene. Emma dämmerte es, daß die Gestapo die Dinge so gelenkt hatte, daß sie keine Möglichkeit hatte, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Unterstützung durch die Brüder
Emma stellte sich dieser schrecklichen Zukunft mutig. Das Leben in Bergenbach hatte sie gelehrt, mit extremer Armut zurechtzukommen. Von ihrer Mutter hatte sie gelernt, niemals aufzugeben und ihr eigener tiefer Glaube gab ihr die Kraft, mit der Situation fertig zu werden. Koehls waren sofort zu Stelle und boten an, was notwendig war. Emma war für diese Großzügigkeit dankbar, wollte aber nicht von Almosen leben. Sie begann, die Handtücher des Friseurgeschäfts, die wegen des Kriegs Mangelware waren, auszubessern. Sie strickte Socken, Pullover und sogar Kleider für Maria Koehl.
Emma schämte sich nicht, jede Woche ins Gefängnis zu gehen, um Adolphe frische Unterwäsche zu bringen und seine Schmutzwäsche zum Waschen mit nach Hause zu nehmen. Jedermann in der Straße wußte, wohin Emma an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Zeit ging. Sie wagte es nie darauf zu hoffen, Adolphe zu sehen, etwas Neues zu erfahren oder einen Brief zu erhalten. Einmal hatte sie eine kleine Bibel in seinem Wäschebündel versteckt. Der Kontrolleur entdeckte sie, er war aber zum Glück für Emma kein begeisterter Nazi und warnte sie daher nur, nicht noch einmal zu versuchen, etwas ins Gefängnis zu schmuggeln.
Einige Tage später wurde sie auf der Straße von einem Gefängniswärter, der früher in der Tapisserie gearbeitet hatte, angehalten. Er hatte in der Vergangenheit hin und wieder für Arnolds gearbeitet. Er teilte ihr mit, daß er Adolphe in eine bessere Zelle mit einem Fenster verlegt hatte, sodaß er das Tageslicht sehen konnte. Außerdem hatte er ihm aus der Gefängnisbücherei eine Bibel besorgt. Emma teilte diese tröstlichen Neuigkeiten mit Simone und machte sie und andere Freunde darauf aufmerksam, wie Jehova sogar Andersgläubige gebrauchen konnte, um seinen Zeugen geistige Unterstützung zukommen zu lassen.
Da die Gestapo sie streng überwachte, beschränkte Emma ihren Kontakt mit Freunden auf das Mindeste. Die Gestapo war mehrfach zurückgekommen und hatte die Wohnung durchsucht, war jedoch jedes Mal ohne belastendes Material und ohne Emma zu verhaften wieder gegangen. Montags Nachmittags besuchte sie Koehls in ihrem Friseurgeschäft oder ihrem Gartenhaus. Sonntags kam ihre Schwester Eugenie nach Dornach. Emma bat die anderen, nicht zu kommen, weil die Gestapo ihnen sicher folgen würde. Eine Ausnahme von dieser Isolation war Marcel Sutter, ein 22 jähriger, der sich wenige Tage, bevor Adolphe verhaftet worden war, als Zeuge Jehovas hatte taufen lassen.
Marcels Zuneigung zu Adolphe und Emma war größer als seine Furcht davor verhaftet zu werden. Adolphe war für ihn wie ein Vater und Simone sah in ihm ihren großen Bruder. Er bestand darauf, mehrmals in der Woche nach Simone zu sehen und ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. Da Emma sich die Klavierstunden für Simone nicht mehr leisten konnte, bestand Marcel darauf, sie zu bezahlen. Doch der wahre Grund für seine Besuche war ein anderer. Ihm fehlten die tiefgründigen biblischen Gespräche mit Adolphe. Nachdem sie Adolphe und vier weitere männliche Zeugen verhaftet hatten, glaubte die Gestapo, die Führung der Versammlung Mühlhausen aus dem Weg geräumt zu haben. Marcel sprang ein und übernahm die Führung in der Untergrundtätigkeit. Er bat Emma darum, die biblischen Gespräche fortzusetzen, um so auf den biblischen Nachforschungen, die er gemeinsam mit Adolphe bereits angestellt hatte, aufbauen zu können.
Obwohl er erst vor kurzem gläubig geworden war, hatte Marcel den brennenden Wunsch, predigen zu gehen. Emma half ihm, seine tiefgehende Liebe zu Gott weiter zu vertiefen. Sein aufopferungsvoller christlicher Geist tröstete sie und Simone sehr, besonders da sie darunter litten, keine Neuigkeiten zu erhalten und nicht ein Wort von Adolphe zu hören.
… aber von der Familie zurückgewiesen
Der Briefkasten blieb bedrückend leer. Nur ein Brief war wenige Tage, nachdem Adolphe weggebracht worden war, angekommen. Er war von seinem Stiefvater Paul Arnold. Er schrieb, wie stolz er darauf sei, wieder Deutscher zu sein, daß sein Enkelsohn Maurice sich freiwillig zur Deutschen Wehrmacht gemeldet hatte und Maurices Schwester deutschen Soldaten dienen würde. Er sei froh darüber, daß sein Stiefsohn im Gefängnis sei, und wenn Adolphe sich nicht ändere, verdiene er es, in ein Konzentrationslager zu kommen. Er sei glücklich darüber, daß Deutschland sich von allen seinen Feinden, die Bibelforscher eingeschlossen, befreien würde. Für dieses Ziel sei kein Preis zu hoch. Der Brief war unterschrieben mit Paul Arnold Heil Hitler.
Der Brief traf Emma ins Herz. Durch den Schock bekam sie Schmerzen in der Brust und konnte kaum noch atmen. Sie lag auf dem Sofa und hatte keine Kraft, auf den Brief zu antworten. Simone war wütend. Sie nahm sich einen Stift und schrieb „Der Teufel hat deinen Brief geschrieben“. Emma ließ sie den Brief abschicken.
Aber Emma bekam ihre Gefühle wieder unter Kontrolle. Das Gebet, Bibelstudium und mit anderen ihre Hoffnung zu teilen, gab ihr Kraft. Sie führte lange Gespräche mit Simone, wobei sie darauf achtete, Simones Sorgen und ihren Herzensschmerz nicht zu vergrößern. Oft sprach sie voller Stolz über Adolphe, welch ein Beispiel des Glaubens er für sie war, dem sie folgen konnten. Simone solle sich keine Sorgen darüber machen, daß sie keine Post von ihm erhielten. Soldaten an der Front konnten auch nicht nach Hause schreiben. Tausende anderer Familien waren in dergleichen Situation.
Neuigkeiten aus Dachau
Schließlich kam im Dezember 1941, mehr als drei Monate nach der Verhaftung von Adolphe sein erster Brief an. Er war nach Schirmeck, einem Durchgangslager im Elsaß, verlegt worden. Nach weiteren vier Monaten kam der nächste Brief, diesmal aus dem Konzentrationslager in Dachau.