Im Sommer desselben Jahres 1944 landete Adolphe auf einem Transport zum berüchtigtsten Lager in Österreich: Mauthausen. Solche Gefangenentransporte ähnelten eher Viehtransporten, und bei der Ankunft im Lager ging der Prozess der Entmenschlichung weiter, wenn die SS Männer die Häftlinge anschrieen, bedrohten und demütigten. Der schmerzhafte Rasur- und Entlausungsvorgang fügte Adolphe weitere Qualen zu, und er bekam eine neue Häftlingsnummer – 89033, und die Blockzuweisung A.K.P.U. Das KZ Mauthausen lag auf einem Granithügel. Der lange, steile Aufstieg zum Lager forderte den Häftlingen enorme Körperkraft ab, aber noch schwerer lastete der seelische Schock. Das Lager ähnelte einer mittelalterlichen Festung und war von Häftlingen in Zwangsarbeit mit hochragenden Mauern, die es vor Passanten verbargen, umgeben worden.
Auch den schrecklichen Steinbruch sah man nicht. Eine Granittreppe aus 187 unregelmäßig behauenen Stufen verband die tief unten gelegene Steingrube mit allen nahe und entfernter gelegenen Bauprojekten. In doppelter Geschwindigkeit mussten die Häftlinge schwere Steinblöcke auf dem Rücken tragen. Wenn ein Häftling ausrutschte, gab es keine Rettung vor der über ihn hinwegrollenden Menschenlawine. Diejenigen, die das Tempo nicht einhielten, wurden von SS Männern die Treppe wieder hinunter getreten, wobei sie andere mit sich rissen. Wenn ein Häftling irgendwie ohne Stein oben ankam, nahmen ihn die Wachen an den Rand des Abhangs und stießen ihn mit sadistischer Freude von der so genannten „Fallschirmspringerwand“ in den Tod. Der schreckliche Anblick an der Felswand hängender Leichname erinnerte jeden daran, dass es für ihn ebenfalls der letzte Tag sein könnte.
Es dauerte lediglich drei Monate, einen Häftling durch solche Zwangsarbeit zu Grunde zu richten. Die Arbeitszuweisung im Steinbruch kam der Todesstrafe gleich. Adolphe verlor mit jedem Tag weiter an Kraft. Hätten ihm andere Zeugen Jehovas, die im Steinbruch arbeiteten, nicht geholfen, wäre es schnell mit ihm zu Ende gegangen. Ein „Lila Winkel“ mit Namen Mattischeck arbeitete als Steinmetz. Wenn er unbeobachtet war, gelang es ihm, für bestimmte Häftlinge „leichtere“ Steinblöcke herauszuschlagen und bereitzulegen.
Mehr noch als in Dachau, gelang das Überleben des Grauens von Mauthausen nur durch den engen Zusammenhalt. Die gefangenen Zeugen Jehovas hielten sich eng aneinander und halfen sich gegenseitig, sowohl physisch als auch geistig. Heimlich trafen sie sich sonntags nachmittags hinter der letzten Baracke, wo nur zwei Wachmänner aufpassten, während die anderen gemeinsam verbotene Seiten aus der Bibel lasen. Niemand verfügte über Nachrichten. Es gab weder Post, noch irgendeine andere Verbindung zur Außenwelt.
Auf Grund des Krieges verschlimmerte sich die Nahrungsmittelknappheit, wodurch sich die ohnehin schon horrende Sterblichkeitsrate noch weiter erhöhte. Adolphes Leben hing an einem seidenen Faden. Er wusste, dass er kurz vor dem Tod stand, als ihn ein Elektriker mit Lila Winkel bemerkte und ihm zu Hilfe kam. Eugen Schwab war schon seit 1936 im Lager und genoss einige Vorrechte, die es ihm gestatteten, frei und ohne Aufsicht im Lager umherzugehen. Es gelang ihm, Adolphe aus Mauthausen in das Außenlager Ebensee zu bringen. Er wusste zwar, dass die Lebensbedingungen in Ebensee sogar noch schlimmer waren als in Mauthausen, aber wenigstens war er dort nicht mehr dem grausamen SS-Trupp auf der Treppe ausgeliefert, der nur begierig darauf aus war, seine Opfer voller Verachtung die Fallschirmspringerwand hinunter zu stoßen. Schwab fand für Adolphe einen Arbeitsplatz in der Wäscherei.
Von nun an war Adolphes Los dieses primitive Lager inmitten des Salzkammergutes in der österreichischen Alpenregion. Eine große Anzahl von Häftlingen kam aus dem Osten, besonders viele aus Russland. Der Lagerkommandant hatte die tägliche Essensration bereits auf die Hälfte reduziert, beschloss sie dann aber weiter auf nur ein Viertel zu verringern. Die Wintermonate mit schweren Schneefällen ließen die Verzweiflung noch weiter wachsen. Im Sommer gelang es den Gefangenen wenigstens etwas Gras zu finden, oder die Hungerkrämpfe mit Sand zu mildern. Bald tat sich ein Schwarzmarkt mit gestohlenem Fleisch auf – es stellte sich heraus, dass es sich dabei um Menschenfleisch – also um Kannibalismus handelte. Mit dieser Gewissheit zu leben, erfüllte Adolphe mit größter Qual. Er stand ohnehin schon kurz vor dem Tod, durchlitt aber zusätzlich Todesängste bei der Vorstellung, zu entschlafen und gierigen Mithäftlingen, die den Sterbenden auflauerten, um ihnen gleich Fleisch aus dem Körper zu schneiden und es auf den Markt zu bringen, ausgeliefert zu sein.
Die wenigen „Lila Winkel“ in diesem Lager gaben auf einander Acht. Adolphe war bereits in einem kritischen Gesundheitszustand ins Lager gekommen, aber die Arbeit in der Wäscherei schützte ihn einigermaßen vor der bitteren Kälte. In einem mit heißem Wasser gefüllten Becken musste Adolphe hin und her stampfen und Berge von schmutziger Wäsche niedertrampeln, als sei er eine menschliche Waschmaschine. Ein SS Wachmann bellte ihm Befehle entgegen, während der scharfe SS Hund im Takt von Adolphes Bewegungen hin und her lief. Eines Tages befahl der SS Mann, Adolphe aus dem Becken zu steigen. Adolphe konnte seit seiner Erkrankung an Scharlach als Kind auf einem Ohr nicht richtig hören, und da es dieses Ohr war, das dem SS Mann zugewandt war, nahm er die Anweisung nicht wahr. Plötzlich schreckte er auf und sah die Killerbestie des SS Mannes auf sich zu stürzen. Er sprang, um den schnappenden Fängen zu entgehen, rutschte auf den nassen Stufen aus und landete auf dem geschädigten Ohr. Der schwere SS Stiefel krachte auf sein Gesicht etwas unterhalb seines Auges und zerstörte die zarten Knochen des noch gesunden Ohrs. Er kam zwar wieder auf die Beine, doch er hatte auf Grund dieser Gewaltanwendung einen permanenten Gehörverlust erlitten.
Das ehemalige Salzbergwerk von Ebensee eignete sich für die Deutschen hervorragend zum Bau von versteckten Stollen und Tunnels. Die meisten Zwangsarbeiter aus Ebensee arbeiteten in diesen Stollen bei der Herstellung von V-1 Raketen. In den letzten Tagen des Krieges munkelte man, dass die Lagerführung beabsichtigte, die Häftlinge in die Stollen zu treiben, sie dort einzusperren, um sie dann mit Sprengstoff zu liquidieren. Die Häftlinge waren entschlossen, sich, falls es soweit käme, der Anordnung zu widersetzen. Als es soweit war, versteckten sich die wenigen Zeugen im Lager in einer Baracke und beteten gemeinsam, während das gesamte Lager im Chaos versank. Als die ersten amerikanischen Soldaten eintrafen, war das Lager nach einem Kugelhagel übersät von Hunderten von Toten.
Wie Adolphe, konnten viele der überlebenden Häftlinge nicht einmal mehr gehen. Er und andere wurden auf Lastwagen in das Rote-Kreuz-Lager des nahe gelegenen Ortes Bad Ischl transportiert. Dort erfuhr er, dass der Krieg schon einige Tage zuvor zu Ende gegangen war! Auch erfuhr er, dass gemäß dem Vertragsabkommen von Jalta Russische Truppen das Tal von Ebensee hatten befreien sollten. Doch hatte ein amerikanisches Bataillon die vereinbarte Grenze von Bad Ischl überquert und Ebensee vor den Russen erreicht.