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Rezension des Buches „Allein vor dem Löwen“

Nachfolgend die deutsche Übersetzung der Rezension des Buches „Allein vor dem Löwen“ – Gillian McCann Ph.D. Candidate, Religious Studies, University of Toronto:

Jedem, der sich ernsthaft über die Geschichte der nationalsozialistischen Besetzung Europas und des Holocausts Gedanken macht, stellt sich unweigerlich die quälende Frage: Hätte ich widerstanden?

„Allein vor dem Löwen“ (Löwe bezieht sich auf das von den Zeugen Jehovas benutzte Codewort für die Naziherrschaft) ist der Bericht eines Mädchens und ihrer Familie, die diese Frage zweifellos mit ja beantworten konnten. Die Geschichte ihrer Verweigerung bietet wertvolle Einsicht in den Charakter einer Person, die bereit ist, sich gegen einen anscheinend allmächtigen Staatsapparat zu stellen.

Liebsters Buch behandelt den Zeitabschnitt von ihrer Kindheit in den frühen 1930er Jahren, über die deutsche Invasion und die Niederlage Frankreichs, den daraus resultierenden Kampf ihrer Familie, den Naziterror zu überleben, das Ende des Krieges und ihre Bemühungen, ein neues Leben aufzubauen. Das letzte Kapitel ihres Buches beschreibt ihr Leben bis heute.

Simone Arnold (ihr Mädchenname) war 10 Jahre alt als, als Paris 1940 fiel und kurz darauf das heiß umkämpfte Gebiet von Elsass-Lothringen, wo sie lebte, besetzt wurde. Familie Arnold war 1937 der Sekte der Zeugen Jehovas beigetreten, einer Vereinigung, die in Deutschland verboten war. Während die Nationalsozialisten ideologisch gegen alle Formen der christlichen Religion eingestellt waren, unterhielten sie doch lockere Verbindungen zur Evangelischen und Katholischen Kirche. Jehovas Zeugen („Bibelforscher“) jedoch wurden anders behandelt wegen ihrer Weigerung, die Staatsgewalt anzuerkennen, den Hitlergruß zu entbieten oder ihm Treueide zu leisten, politische Kundgebungen zu besuchen oder Militärdienst zu leisten. Demzufolge wurden 10.000 von ihnen ins Gefängnis gebracht, 2000 in Konzentrationslager gesperrt, von denen mindestens die Hälfte getötet wurden.

Schon vor dem Krieg wurde den Arnolds in der konservativen Kleinstadt Mulhouse wegen ihrer religiösen Überzeugung das Leben schwer gemacht. Nachbarn und selbst einige Familienmitglieder ächteten sie. Beginnend mit der deutschen Besetzung war jedoch sehr bald ihr Leben in Gefahr. 1938 wurden Jehovas Zeugen von den Nazis offiziell verboten, und man verweigerte ihnen die Rede- und Versammlungsfreiheit. Familie Arnold blieb auch nach der nationalsozialistischen Besetzung in ihrer Kirche aktiv, beteiligte sich an geheimen Zusammenkünften und schmuggelte Literatur über die schweizerische Grenze. Als der Druck zunahm, verlor Simones Vater Adolphe seine Arbeit und das Bankkonto der Familie wurde von der Gestapo geschlossen. Im Herbst 1941 wurde Adolphe schließlich verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht.

In der Zwischenzeit wurde Simone unter Druck gesetzt, sich dem nazifizierten Schulsystem anzupassen. Da sie nicht mit „Heil Hitler“ grüßte und sich auch weigerte, dem Bund Deutscher Mädchen beizutreten, wurde sie in die Wessenbergische Erziehungsanstalt für Mädchen in Deutschland gebracht. Kurz danach, im September 1943, wurde Simones Mutter ins Konzentrationslager Schirmeck gebracht. Simones Leben in der Erziehungsanstalt bestand aus geisttötender Zwangsarbeit, Unterernährung und unvorhersehbarer Bestrafung, was alles darauf abzielte, ihren Willen zu brechen und sie zu veranlassen, ihre religiöse Überzeugung aufzugeben.
Der letzte Teil des Lebensberichts beschreibt die Wiedervereinigung der Arnolds nach dem Krieg. Wie durch ein Wunder überlebten alle drei, aber Liebster erklärt, dass es Jahre brauchte, bis sie die physischen und emotionalen Auswirkungen der Kriegserlebnisse überwunden hatten. Adolphe Arnolds Gesundheit war stark beeinträchtigt, und er war nicht dazu in der Lage, wieder zu arbeiten; alle drei Familienmitglieder hatten Schwierigkeiten, sich im normalen Leben zurechtzufinden.

Liebster beschreibt, wie die Familie an Zebrastreifen stand und auf Befehle wartete, die Straße zu überqueren, oder wie sie beim Geräusch von Stiefeln auf der Treppe hochschreckten.

Kapitel 15, „Vergeltung oder Vergebung“, ist besonders ergreifend. Direkt nach dem Krieg hatten Opfer der Naziherrschaft die Gelegenheit, diejenigen verhaften zu lassen, die sie an die Gestapo verraten hatten. Im Fall der Arnolds waren der katholische Gemeindepriester, der evangelische Pastor und Nachbarn aus ihrem Mietshaus dafür verantwortlich. Zu Simones Erstaunen und Ärger suchte ihre Mutter keine Vergeltung mit der Begründung: „Rache gehört nur Gott“. In diesem Kapitel spiegeln Simones Gefühle zwischen Ärger und Bewunderung die Gefühle des Lesers wider.
Das letzte Kapitel des Werkes beschreibt Simone Arnold Liebsters Leben bis zum heutigen Tag. Liebster erklärt, dass ihr Kampf mit dem Vermächtnis ihrer Erlebnisse nicht einfach war und sich in einem Mangel an Ehrgeiz und extremer Schüchternheit äußerte. Sie blieb ein ergebener Zeuge Jehovas und ging schließlich in die Vereinigten Staaten, wo sie 1956 Max Liebster, einen Holocaustüberlebenden, heiratete.

„Allein vor dem Löwen“ enthält eine Menge ausgezeichneter und relevanter Fotografien und Bleistiftzeichnungen der Autorin. Im Anhang findet man Landkarten, Briefe der Arnolds aus der Zeit ihrer Gefangenschaft, Auszüge aus nationalsozialistischen Lehrbüchern, die Simone lesen musste, und eine Kopie der Erklärung, mit der sie ihrem Glauben abschwören konnten. Diese Erklärung ermöglichte jedem Zeugen Jehovas, der sie unterschrieb, sofortige Freilassung. Sowohl Simone als auch ihre Mutter und ihr Vater hatten sich bei vielen Gelegenheiten geweigert, diese Erklärung zu unterzeichnen.

Simone Liebsters Lebensbericht ist eine wertvolle Ergänzung der Berichte über den Widerstand gegen die Naziherrschaft aus erster Hand. „Allein vor dem Löwen“ gehört zu den Bemühungen des Cercle Européen des témoins de Jéhovah Anciens Déportés, die Lebensgeschichte der Zeugen Jehovas zu dokumentieren, die dem Naziregime widerstanden. Das Buch beginnt etwas langatmig und hält sich zu lange bei der Beschreibung der idyllischen Kindheit der Autorin auf, aber das ist ein kleiner Schwachpunkt im Vergleich zur generellen Qualität des Werkes. Das Werk gibt wichtige Informationen über das Schicksal der Zeugen Jehovas während der deutschen Besetzung, worüber Historiker wenig geschrieben haben, und es beschreibt in einem persönlichen Bericht, wie die Nazischikanen ganz normale Menschen betrafen.

„Allein vor dem Löwen“ ist eine Art Sozialgeschichte, die der politischen Geschichte dieser Zeitperiode eine weitere Dimension hinzufügt. Es trägt zum Verständnis der gesellschaftlichen Triebkraft unter extremstem Druck bei und zeigt die Bandbreite der Reaktionen von normalen Menschen.

„Allein vor dem Löwen“ ist besonders bedeutsam als Charakterstudie einer Person, die sich von ihrem Gewissen leiten lässt. Simone und die gesamte Familie Arnold unterschieden sich bereits vor dem Krieg von der Gesellschaft. Sich Gott mehr als dem Staat verpflichtet zu fühlen, ihr Pazifismus und ihre Bereitschaft, die Normen ihrer Zeit infrage zu stellen, trennte sie von anderen Personen ihrer Gesellschaft. Die Elsässische Bevölkerung wird als konformistisch und autoritär beschrieben, mit wenig Ambiguitätstoleranz (Toleranz für unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen). Simone wuchs in einer offenen, intellektuellen Umgebung auf, wo sie dazu ermuntert wurde, Dinge zu hinterfragen und selbst nachzudenken. Außerdem wuchs sie in einer Atmosphäre auf, die frei war von Rassenvorurteilen. Die Autoritäten in Wessenberg versuchten, diese Erziehung rückgängig zu machen und ihr Passivität, Gehorsam und Schweigen beizubringen.

Der persönliche Glaube von Simone Arnold Liebster durchdringt dieses Buch, und wie andere Zeugen Jehovas auch versteht sie ihre Erfahrungen als moderne Version von Daniel in der Löwengrube. Liebster bezieht einen Brief von dem 24jährigen Zeugen Jehovas Marcel Sutter ein, den er wenige Stunden vor seiner Hinrichtung durch die Nazis im Jahre 1943 schrieb. Darin heißt es: „Ich bitte Euch, stark und mutig zu sein; weint nicht, denn ich habe gesiegt. Ich habe den Lauf vollendet und den Glauben bewahrt.“ „Allein vor dem Löwen“ beweist, dass normale Mitmenschen sich der Naziherrschaft entgegenstellten und ihr widerstanden. Dem Leser obliegt es, darüber nachzudenken, ob (vor dieselbe Wahl gestellt) ich oder meine Freunde und Nachbarn den Mut hätten, ebenso zu handeln.

Quellenangabe: Gillian McCann. Rezension von Liebster, Simone Arnold, Facing the Lion: Memoirs of a Young Girl in Nazi Europe. H-Holocaust, H-Net Reviews. September, 2001. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=5496

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